In einem eindrucksvollen Essay beschreibt Rebecca Maskos im SPIEGEL Rebecca Maskos über die Ausrenzung von Menschen mit Behinderung im Alltag - und wie man Ableismus verlernen kann
Der Körper als Querulant, Provokation und Projektionsfläche
Die Autorin bezeichnet ihren Körper als Querulant „viel zu klein, nicht symmetrisch,
die Beine krumm und kurz, der Hals auch, die Arme zu lang, der Rücken schief.“ Er ist ebenso eine Provokation für das Medizinsystem, das ihn vollkommen und heilen möchte. Ihr Körper ist „eine Projektionsfläche: für all die Ängste und den Abscheu vor Behinderung, vor der größten anzunehmenden Körperkatastrophe. Sie wird gelobt, wenn sie ihren Rollstuhl einlädt, bemitleidet und nach Sex und Kindern gefragt.
Ableismus – systematische Abwertung
Die Autorin nennt diese Phänomene Ableismus – er reduziert Menschen ebenso wie Sexismus oder Rassismus auf ein Merkmal. Wenn ihr etwas gelingt, dann trotz ihrer Behinderung. Ableismus ist vielfältiger als der Begriff „Behindertenfeindlichkeit“, er kommt verkleidet als Kompliment, Mitleid und „in Form des Drucks, gesund und leistungsfähig zu sein.“ Obwohl die Grenzen zwischen Behinderung und Nichtbehinderung fließend sind, konstruiert Ableismus ein Entweder-Oder
Strukturelle Ausgrenzung in den Medien
Die Autorin beklagt die systematische Ausgrenzung. Dies reicht von Märchen von Sieben Zwergen über Filme, in denen Behinderte den Tod herbeisehnen hin zu Thomas Gottschalk, wie er 2023 einen jungen Wettkandidaten im Rollstuhl behandelt. Diese strukturelle Ausgrenzung geht bis in die Antike zurück.
Eugenik – die Verbesserung des Erbguts
Während der Industrialisierung entstanden Anstalten. Mit medizinischen Klassifikationen und Diagnosen versuchte man, ihre querulantische Naturhaftigkeit unter Kontrolle zu bringen.
Die Ideologie der Eugenik mit dem Ziel der Verbesserung des Erbguts führte zu Gesetzen, die Ehen mit Kranken verboten. Die Nationalsozialisten ermordeten unter dem Begriff „Euthanasie“ 300.000 behinderte Menschen.
Abstand halten aus Angst
Nur drei Prozent aller Beeinträchtigungen sind angeboren, der Rest entsteht durch Unfälle oder chronische Krankheiten. Durch Ausgrenzung kann man Behinderung ausblenden. „Was man fürchtet, hält man auf Distanz.“ Menschen fragen nicht die Autorin, sondern ihre Begleiter, machen mehr Platz als nötig. Auch ihrer Eltern wollten, dass sie sehr gut ausgebildet ist, denn einen Ehemann würde ich sicher nicht finden. Viele behinderten Frauen werden immer noch zur Sterilisation gedrängt, sie leben mit einem hohen Risiko, sexualisierte Gewalt zu erleben.
Sonderwelten abschaffen
Die Autorin kritisiert die „Maschinerie der Sonderwelten“, durch die das gefürchtete Szenario Behinderung aus dem Alltag entfernt und das »Problem« der Betreuung auf kapitalistisch-effektive Art erledigt wird. Noch immer arbeiten über 310.000 Menschen in Werkstätten und rund 200.000 leben in stationären Einrichtungen – von der in der Behindertenrechtskonvention geforderten Abschaffung der Sonderwelten ist Deutschland weit entfernt.
Ableismus verlernen
Wir müssen Ableismus verlernen: kein Geld für Sonderwelten, sondern mehr Geld in Assistenz und Pflege, inklusive Arbeitsorte und ein Schulsystem, das allen Kindern gerecht wird.
Ableismus verlernen heißt auch, sich zu fragen, wie nah man behinderte Menschen an sich heranlässt und ihnen zuzuhören: Texte zu lesen, ihnen zu folgen. „Sie nicht mehr zu »anderen« zu machen. Und die Affekte gegenüber »fremden«, »anderen« Körpern zu verlernen: Angst, Ekel, Scham, Faszination.
Ableismus zu verlernen hieße, auch querulantische Körper zu lieben – und sich von ihrer Schönheit überraschen zu lassen.“