In einem neuen Dossier auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung geht es um Behinderung. Ein Blick auf die einzelnen Bereiche zeigt die Fortschritte, macht aber auch deutlich, dass noch viel zu tun ist. Einige der Artikel möchte ich hier vorstellen:
Behinderung – was ist das eigentlich?
Laut Sozialgesetzbuch sind Menschen mit Behinderungen „Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können“.
Behinderung ist eine komplizierte, multidimensionale und facettenreiche Sammelkategorie – soziale und kulturelle Normen haben einen großen Einfluss darauf, was als Behinderung gesehen wird. Die Barrieren in einer Gesellschaft sind ebenfalls als Merkmal der Behinderung(en) zu sehen. Sie behindern Menschen beispielsweise beim Wohnen, Arbeiten oder in ihrer Mobilität.
In ihrem Bericht zeigt Swantje auf, dass es sich um eine komplexe und relative Kategorie handelt, die sich historisch auch immer wieder geändert hat.
Teilhabe und Inklusion
Dieter Kulke beschreibt die Bedeutung von Inklusion, nämlich „alle einzubeziehen, im Bildungssystem, im ersten Arbeitsmarkt, aber auch in kulturellen Einrichtungen“.
Er zitiert meine Lieblingsdefinition der Aktion Mensch: „Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch ganz natürlich dazu gehören“.
Es gibt Veränderungen im Verständnis:
- Die Perspektive verschiebt sich vom Individuum auf die Gesellschaft
- Menschen müssen in ihrer ganzen Vielfalt und Diversität berücksichtigt werden
- Es geht um gesellschaftliche Institutionen für verschiedene Lebensbereiche: Wohnen, Arbeit, Gesundheit…
Die Ergebnisse des Dritten Teilhabeberichts zeigen deutliche Defizit: Die Arbeitslosigkeit ist deutlich höher, die wirtschaftliche Situation ist schwieriger und auch die Teilhabe an der Politik geringer. Menschen mit Behinderungen interessieren sich weniger für Politik und haben auch wenig Vertrauen in die Politik. Es geht also auch um eine Stärkung der Demokratie: Inklusion ist nicht nur eine menschenrechtliche Verpflichtung, sondern auch gut für die nicht-beeinträchtigten Menschen und die ganze Gesellschaft.
Politische Repräsentation von Menschen mit Behinderungen in Deutschland
Lillit Grigoryan betont in ihrer Analyse ebenso die Defizite: Menschen mit Behinderungen wurden in nationalen und internationalen Gesetzen lange Zeit nicht berücksichtigt. Inzwischen ist das Recht auf Partizipation gesetzlich vorgeschrieben. Noch immer aber können Behindertenverbände – insbesondere auf Länderebene – nicht umfassend und effektiv an Entscheidungsprozessen teilnehmen.
UN-Behindertenrechtskonvention - Anspruch und Wirklichkeit
Fortschritte bei der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention sieht Valentin Aichele, der bis 2020 die Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention geleitet hat.
Das Übereinkommen hat das Ziel, die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe und den Genuss der Menschenrechte für Menschen mit Behinderungen sicherzustellen
Im Zeitpunkt des Inkrafttretens 2009 war Deutschland alles andere als eine inklusive Gesellschaft. Denn in den Lebensbereichen Bildung, Wohnen und Arbeit gab es zum Beispiel viele Strukturen, die eher eine trennende Wirkung hatten und Menschen mit Behinderungen praktisch aussonderten: Diese Sondersysteme galten als Errungenschaft, wurden von vielen aber kritisiert. Das Fortbestehen der Systeme wurde bei der letzten Prüfung kritisiert.
In einigen Punkten ist Deutschland vorangekommen
- Der Ausschluss vom Wahlrecht wurde überwunden
- Auf Basis einer EU-Richtlinie wurde der gleichwertige Zugang zu Gütern und Dienstleistungen verbessert, v.a. durch die Förderung der Barrierefreiheit.
- Die Selbstbestimmung wurde gestärkt: Wunsch und Willen der betreuten Personen müssen stärker bewertet werden.
Viele Menschen mit Behinderungen waren in Zeiten der Pandemie teilweise besonders belastet und gefährdet. Durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts wurde bestimmt, dass im Falle einer Zuteilung von Ressourcen nur aufgrund der aktuellen Überlebenswahrscheinlichkeit getroffen werden kann.
Mit Behinderungen ist zu rechnen – ein Essay
Ottmar Miles-Paul kritisiert in seinem Essay die Umsetzung der Inklusion und Barrierefreiheit. Dass Deutschland zuweilen als „Aussonderungsweltmeister“ bezeichnet wird, hat durchaus seine Berechtigung. Historisch gewachsene Behinderteneinrichtungen wie beispielsweise Werkstätten für behinderte Menschen und die karitative statt menschenrechtlich orientierte Ausrichtung der Dienstleistungen dominieren immer noch weitgehend die Unterstützungsangebote für behinderte Menschen.
Auch mit der Ampel-Koalition ist er unzufrieden. Es gab im Koalitionsvertrag zwar vielversprechende Ansätze, die Praxis zeigt bisher nur Ankündigungen statt verbindlicher Vorhaben.