In der Süddeutschen Zeitung fordert Heribert Prantl eine Zeitenwende der anderen Art – ein Ausgleich der Ungerechtigkeiten durch Behinderung.
Inklusion als substanziell Demokratisches
Prantl betont, dass es sich bei Inklusion um ein gewaltiges demokratisches und gesellschaftliches Projekt handelt - um die Eingliederung von Menschen mit Behinderung in die normale Alltagswelt, so gut es nur geht. Es geht um Zugänglichkeiten – zu Gebäuden und Verkehrsmitteln, aber auch zur Gesellschaft: Bildung, Ausbildung, das Arbeits- und Freizeitleben. Es ist ein mühevoller Lernprozess für alle Beteiligte. Inklusion ist ein anderes Wort für Sozialstaat; es ist ein anderes Wort für Demokratie, weil Demokratie mehr ist als ein Wahlritual; sie ist eine Wertegemeinschaft.
Eine Frage der Gerechtigkeit
Eine Behinderung kann jeden treffen, nur rund fünf Prozent an behindert, alle anderen sind im Laufe des Lebens durch Unfall oder Krankheit betroffen. Es ist eine Frage des Schicksals. Eine fürsorgliche Gesellschaft hat deshalb die Aufgabe, dass diese Menschen reale Chancen haben, Prantl nennt dies „Schicksalskorrektur“.
Der wichtigste Satz unserer Republik
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – das Grundgesetz mit diesem grandiosen Artikel 1 wird nächstes Jahr 75 Jahre, seit 30 Jahren steht in Artikel 3 "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden." Es gilt die Ausgrenzung eines Zehntels der Gesellschaft zu beenden – „Inklusion beginnt daher mit der Sichtbarmachung; und sie verwirklicht sich in exzellenter medizinischer Behandlung und Begleitung und kreativer sozialer Betreuung.“ Die Grundsätze bedingen ein Nachteils- und Schicksalsausgleich, d.h. eine Bevorzugung von Kindern mit Behinderung ist geboten. Die Demokratie muss alles dafür tun, dass alle dazugehören: Zugang zum Gesundheitssystem, Bildung und Arbeitsleben.
Inklusion als gewaltiger Mehrwert
Für die Schule fordert Prantl eine „kluge Pädagogik im Einzelfall“, eine räumliche Eingliederung allein reicht nicht. Inklusion darf nicht zum Streichen von Förderschulen genutzt werden, sie können Kindern einen geschützten Raum mit wenig Leistungsdruck bieten. Auch diese Zeitenwende kostet Geld, hat einen gewaltigen Mehrwert, weil die Kultur des Helfens die Gesellschaft wunderbar verändern kann.
Eine inklusive Gesellschaft entwickelt frühzeitig ein anderes Bild vom Menschsein: Es wird nicht mehr nur am Lineal von Ökonomie und Leistungsfähigkeit gemessen. Hilfebedürftigkeit gehört zum Menschsein: Das lehrt die Inklusion.
Die Stärke misst sich am Wohl der Schwachen
Der mutige Satz "Die Stärke eines Volkes misst sich am Wohl der Schwachen" steht es in der Präambel der Schweizer Verfassung. Die sogenannten Schwachen brauchen gute Hilfe und Assistenz, dann sind sie stark. Und ein starker Staat ist ein Staat, der sich um das Wohl der Schwachen kümmert, dabei merkt, dass die Schwachen gar nicht so schwach sind - und dann ihre Stärken, die Perfektion des Unperfekten, zu schätzen lernt. Das ist dann wirklich eine Zeitenwende.